Leseprobe "Prinze Boor"

Prinze Boor
Ein Tag im Leben der Hebamme Mina Löwenbrück, Gödenroth
(...) Kein Kind, das ihren „Prinze Boor“ nicht kannte. Legenden rankten sich um ihren Brunnen und verdichteten sich in der Vorstellung der Kinder zu einem wundersamen, einzigartigen  Zauberbrunnen, der seine Geheimnisse barg und dem sie sich mit respektvoller Ehrfurcht näherten. Erwachsenenwissen blieb Kindern verborgen, daran änderte auch nichts, dass die älteren  Bauernjungen nach und nach in die handfesten Geschehnisse eingeweiht wurden, indem man sie Zeuge davon werden ließ, wie die Kuh, nicht selten mit Stecken und Fußtritten, zum Stier geführt wurde. Herta aber, 1937 geboren und ohne den Vater aufgewachsen, mit dem sie nur vage einige glückliche, ineinander verschwimmende Erinnerungen aus dem Fronturlaub verband, war nie mit dergleichen in Berührung gekommen. Sie selbst, Gertrud, hatte darauf geachtet, dass der Kleinen nicht die Unschuld genommen wurde, sowenig wie dem Bruder.
Nach einigen Tagen nicht enden wollender Verhöre, Beschuldigungen und Verwünschungen hatte Herta aufgehört zu sprechen. Dann erst machte sich die Mutter zu Fuß auf den Weg nach Gödenroth, um Minas Rat einzuholen. Diese hatte Herta untersucht, ihre Brüste, ihren Leib. Sie hatte die fortgeschrittene Schwangerschaft und Hertas blanke Ahnungslosigkeit festgestellt, dazu die dunkelblauen Flecken an ihrem Körper. Es war höchste Zeit, ihr zu erklären, wie dieses Kind in sie hinein gekommen war, und vor allem, wie es heraus kommen würde. Mehrmals war Mina in den letzten vier Wochen dort gewesen, hatte ihren Zustand geprüft und erklärt, was zu erklären war. Auch mit den beiden Frauen hatte sie lange gesprochen und der Mutter angedroht, dass sie ihr persönlich  mit dem Prügel zu Leibe rücken würde, wenn sie noch einen einzigen blauen oder grünen Fleck an Herta entdeckte. „Schaam deijch!“, hatte sie ihr gesagt. „Dou host selwer beim Langensiepen un däm sei schlächte Hiemels-Schendarme(*) uff der schwarz Bank sitze miesse, als dä gemerikt hot, dat Herta die Zeiit nit ingehall hot, wie der vor dem Traualtar gestann hot, dou un deine Mann!“
„Eeijch hon geheirat, awer dat lo wääs noch nit mol….“
„Hall dein Maul! Sie wääß aach nix, wenn dou se weire schlaan duust. Reiß deijch sesamme. Eijch saan der, wenn dem Kind wat passeert, dann…“ Sie machte eine drohende Gebärde mit der flachen Hand. Weniger die Drohung als vielmehr sie selbst, Mina, hatte ihre Wirkung auf die Mutter nicht verfehlt. Es war ein wenig Ruhe eingekehrt. Doch das ewige Lamentieren, das hatte Mina nicht unterbinden können.
Nun lag Herta keuchend vor ihr und trank in kleinen Schlucken vom Tee aus Himbeerblättern, Zimt und Nelken. Für ein paar Sekunden herrschte Ruhe und Harmonie zwischen Herta, ihrer Großmutter und Mina, eine Art Traulichkeit und innerer Einkehr, die bewirkte, dass Herta langsam zu begreifen begann: Es gab kein zurück! Ab morgen würde nichts so sein wie es gestern noch gewesen war.
„Dou mußt gleiich dief inodeme Herta,und gradous dohien, wo dein Kind jetz leiit.. Speerscht dou, wie it am Schaffe is?“
Herta blickte Mina aus großen Augen an, doch sie konzentrierte sich und nickte. Dann wurde sie von der nächsten Wehe geschüttelt. Und während Gertrud sie in den Armen hielt, atmete Mina tief ein und gab Herta den Rhythmus vor: tief einatmen – lange ausatmen. Und noch einmal. Drei Mal.
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