Leseprobe "Der Fall"

Der Fall
(Leideneck, Oktober 1868)


Es war nur wenige Tage vor der Reformation. Leicht gebeugt saß Lillie alleine auf der Bank, ihr linkes Auge hinter einer dicken blauen Schwellung verschwunden. Als der Pfarrer von der Kanzel hinter ihr die Gemeinde mit den Worten ansprach: „Wir danken Gott, der unsere Sünden vergibt. Er, der das Schwarze aus unserer Seele zu tilgen vermag, er hilft uns auch aus dem Schmutz der Gegenwart heraus und bewahrt uns davor, zurückzufallen in die Bodenlosigkeit der Sünde. Freudig werden wir beides annehmen, Buße und Vergebung! Buße und Vergebung können nicht getrennt werden“, blieb sie still, wie in sich versunken, wie taub gegen alles, was um sie herum geschah. Mit dem rechten Auge blinzelte sie leicht, so als wollte sie sich vergewissern, dass dieser Moment, dieser Platz, diese Menschen um sie herum keine Täuschung waren. Aber – nein, es hatte sich nichts geändert, seit vorhin, als sie, von Pfarrer Schulz geleitet, hier Platz nehmen musste. „Die „Schwarze Bank“, so nannte man den Platz für die armen Sünder, die gegen Sitte und Moral verstoßen hatten. Meistens hörte man ja nur von einer armen Sünderin. Eine solche „arme Sünderin“ hatte sie noch nie selbst gesehen. In ihrem Heimatdorf Michelbach gab es keine Kirche. Sie hatte nur als Kind aufgeschnappt, was in ihrem Elternhaus gesprochen wurde. Tagelang hatte es damals kein anderes Tischgespräch gegeben als die Sünderin und den Bankert, den sie zur Welt bringen würde. Lillie wusste nicht, über wen da gesprochen worden war, es war niemand aus Michelbach gewesen und sie hatte die Sünderin nie zu Gesicht bekommen. Aber es hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben, dass da etwas Schlimmes passiert war, etwas, das nicht geschehen durfte. In Leideneck, wo sie seit über einem Jahr im Hause von Mutters Base Erna und ihrem Mann, Onkel Hermann, diente, hatte seit der Einweihung der Kirche niemand auf der schwarzen Bank Platz nehmen müssen. Sie – war die Erste!
Gegenüber, jenseits des Altars, die schwarzen Männer vom Presbyterium. Rechts von ihr die Gemeinde, vorne auf der gegenüberliegenden Seite die Buben, seitlich rechts vor der Kanzel die bereits konfirmierten Mädchen. Hinter der ersten Bankreihe nach Alter und nach Rang geordnet der Rest der Gemeinde, Männer und Frauen durch den Mittelgang getrennt. Die hinteren Bänke verloren sich im Dunkel des bis auf den letzten Platz besetzten Gotteshauses von Leideneck.
Ein Jahr war es her, da hatte sie an der Seite von Clara, Tante Ernas Tochter, zwischen den „großen“, den bereits konfirmierten Mädchen in der zweiten Bank ihren Platz gehabt. Zur gleichen Zeit hatte der junge Pfarrer Schulz seinen Dienst hier angetreten. Was ihn aus dem Ruhrgebiet nach Leideneck verschlagen hatte, konnte niemand wissen.

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