Leseprobe Oberförster

Oberförster Grosholz (1851)

Die Geschichte des Mannes, der den letzten Wolf im Soonwald erlegte


Sie war die Letzte, die Übriggebliebene ihrer Art. Als sie sich den Höfen rund um Kreershäuschen nähert, kannte sie die Gefahr. Im Herbst waren sie noch zu viert gewesen. Aber der Treibjagd durch das winterkahle Laubgehölz des Soonwaldes im Januar waren die anderen erlegen: Zuerst traf es die beiden unerfahrenen Jungtiere, sodann zersiebten die Flinten der Männer den Leitwolf, ihren Partner, als dieser sich daran machte, ihr über die schmale Schneise des Windbruchs hinüber in die rettende Fichtendickung zu folgen, deren junger Bestand niedriger Nachwuchsfichten eine Deckung bot, die es in den kahlen Buchen und Eichen des Winterwaldes sonst nirgendwo mehr gab. Doch diese Schneise war auch den Verfolgern nicht fremd, und nicht umsonst hatten die Männer der umliegenden Flecken schon einige Zeit zuvor beim „Herrn Landrath“ untertänigst um die Erlaubnis zur Bewaffnung mit tauglichen Gewehren nachgefragt, da „beinahe täglich bei der Hammelherde sich ein Wolf sehen läßt“. Sie schossen schlecht, diese ungeübten Männer nördlich und südlich des Soonwaldes. An ihr selbst zischten die Kugeln vorbei. Doch umso mehr davon hatten ihren Partner getroffen. Mochten sie auch wenig treffsicher sein – sie waren zahlreich. Erregung sowie die Aussicht auf Entlohnung versetzte Treiber und Schützen gleichermaßen in Rausch: der Schüsse fielen so viele, dass der letzte Weg des Leitwolfes ein langer war, bevor sein Blut den für die Jahreszeit unüblich dünnwässrigen Schnee hellrot färbte, als er in sich zusammen sackte.

Ruhig trat der Mann mit dem schwarzen Bart und dem Pinsel am Hut neben das zuckende Tier, das im Todeskampf, das Weiße in den Augen, wild nach ihm schnappte. Ohne zu zögern legte er sein Gewehr ab, zog sein Fangmesser, packte den Todgeweihten geschickt am Wickel und gab ihm mit geübter Hand per Kehlschnitt den Gnadentod. Er richtete sich auf, zog seinen Hut, legte ihn schweigend vor die Brust und verbeugte sich knapp. So verharrte er, bis alles Leben aus dem Wolf gewichen war. Ein letztes Mal sah die Wölfin seine Pfoten aufzucken. Dann rannte sie flach um die jungen Fichten. Sie hinterließ eine breite Spur im nassen Schnee der lose bestockten Heide am Rande der Siedlung, wo die Schafe im zugigen Holzstall aufgeschreckt zu blöken begannen. Sie setzte den Abhang hinunter und verkroch sich unter Buschwerk. Bis hierhin hörte sie das Trara der Hörner: „Wolf ist tot, Wolf ist tot, Wolf ist tot, ist tot“. Das Lachen und die Stimmen der Männer, erreichten sie hier nicht mehr. So war sie liegen geblieben, gehetzt und voller Angst, rasend das Herz.
Ein paar Wochen war das her. Anfangs hatte sie sich nicht mehr in den ungeschützt kahlen Wald getraut. Auch den angestammten Unterschlupf weiter oben in der Schieferhöhle hatte sie nicht mehr aufgesucht. Verstört war sie am Rande des Heidegeländes geblieben. In genügend Abstand zum Schafstall hatte sie verzweifelt versucht, nasse Mäuse zwischen dem borstigen Gestrüpp zu ertappen, nur tief in der Nacht hatte sie sich in die Fichtung geschlichen, in der Hoffnung, dort einen Hasen zu finden. Einmal war ihr ein schwaches Reh vor den Fang gelaufen, kraftlos so wie sie. Es hatte ihr gut getan. Aber sonst war an sättigende Beute nicht zu denken. Was sie fing, machte sie von Tag zu Tag weniger satt. Und wo sie ging, wo sie fraß – hinterließ sie Spuren! Sie wusste, dass ihr Widersacher ihr auf den Fersen war. Sie fand die Hufe seines Pferdes, die Tritte seiner Stiefel neben denen ihren. Sie roch und beschnüffelte jeden Millimeter seiner Duftspur im Harsch. Sie lernte ihn erkennen, so wie er sie längst erkannt hatte. Und so wie sie seine Spuren mied – so folgte er den ihren. Er ließ ihr keinen Ausweg.
Der, der da so beharrlich an ihren Fersen hing, war Oberförster Johann Wilhelm Grosholz, erfahrene 49 Jahre alt, und seit drei Jahren in Amt und Würden am Entenpfuhl, seit jeher attraktiver Amtssitz der Oberförster und Zentrum der Jagdpassionierten in der Region. Erst drei Jahre zuvor, 1848, hatte er sein Ziel erreicht, sich hier am begehrten Standort in Nachbarschaft zu dem Ort, wo er geboren worden war, einzunisten.
Man würde sich seiner nicht besonders erinnern, hätte er nicht diesen einen Schuss getan: jenen Schuss auf den letzten Wolf auf dem Hunsrück. Dass der Wolf eine Wölfin war, interessierte den bewundernden Chronisten nicht, der folgendes Schild an die Eiche nageln ließ: „Hier wurde am 3. März 1851 der letzte Wolf von Oberförster Grosholz erlegt“.
„Wolfseiche“ – so nennt man die Eiche am Wegrand zu Kreershäuschen hin, und daran hängt das stilvoll-schlichte Holzschild mit seiner historischen Botschaft, die sich ausnimmt wie eine Hommage auf Oberförster Grosholz. Oft fotografiert, gelegentlich auch von Trophäenjägern abgehängt und mitgenommen, wird es seit bald 170 Jahren immer wieder liebevoll neu gestaltet, neu beschriftet, neu angenagelt. Verdiente Honoratoren der Region erhalten das verwitterte alte Schild als Präsent, wenn es gegen ein neues ausgetauscht wird. Die Eiche erträgt als würdige Mume mit Geduld den neuen Nagel und hält das Schild dem Vorbeiziehenden hin: „Hier wurde …“
Auch an sie selbst, die Wölfin, würde sich kein Mensch mehr erinnern, wäre es nicht er gewesen, der ihr im Alleingang einen einzigen präzisen Schuss an die richtige Stelle gesetzt hatte. Anders als die Dilettanten auf der Treibjagd zwei Monate zuvor verstand er sich aufs Töten. Und anders als der Bauer, der ein Jahr später einen sterbenden Wolf bei Schwarzerden fand, ihm die Flinte an den Kopf legte bevor er abdrückte, schlummerte in ihm der Stolz des Jägers.

Share by: