Leseprobe "Der Uhrmacher von Rhaunen"

Der Uhrmacher von Rhaunen
Die letzten Tage im Leben des Julius Lenhardt

Er verstand es, sich Feinde zu machen! Immer heftiger, immer lauter begann er während der letzten turbulenten Monate des Krieges die patrouillierenden Nazis zu beschimpfen. Wenn er ihrer bei den nächtlichen Kontrollgängen gewahr wurde, stürzte er aus dem Haus und beschimpfte sie. Er scherte sich nicht um den Verdunkelungsbefehl: Licht drang aus seiner Wohnstube, als amerikanische Bomber im Winter 1945 nachts Angriffe flogen. Oft genug rannte er dann hinaus in den Schnee und schrie, dass von da oben „Himmelsmusik“ erklingen würde. Dass der Tag nicht mehr weit sei bis zur Ankunft der Amerikaner in Rhaunen. Dass dies der Tag der „Befreiung“ sei. Die befehlshabende nächtliche Streife kam nicht gegen ihn an.
Im März 1945 waren die Feuergefechte der aus Emmelshausen heranrückenden Amerikaner bis nach Rhaunen zu hören. Julius Lenhardt blühte auf. Es verging kein Tag, an dem er, der Schweigsame, nicht freudig erregt die baldige Ankunft der Amerikaner verkündete. Das bevorstehende Ereignis schien ihm zur Mobilisierung aller seiner Lebenskräfte zu verhelfen. Denn denen – so rief er den Polizisten Velten und Appendorf zu, denen werde er alles erzählen.
Alles! Was meinte er mit „alles“? Was wusste er – und von wem?
War Julius Lenhardt vielleicht verwirrt? War er nicht mehr ganz dicht, wie man heute sagen würde? Einige schienen das zu glauben und ließen den alten „Spinner“ in Ruhe. Andere schienen jedoch kalte Füße zu bekommen.
Als Lilly ihn bei ihrem täglichen Besuch am frühen Morgen des 13. März 1945 tot in seiner Wohnstube liegen sah, mit einem großen Loch im Genick, rannte sie schreiend den Pühl hinunter zum Idarbach, wo Arno Gräf und die anderen Kinder standen: „Sie haben den Uhrmacher erschossen!“
Lilly war nicht die Erste gewesen, die ihn in seinem Blut gesehen hatte.
Am Tag zuvor, am 12. März 1945, hatten sich zwei noch relativ junge Soldaten in der Schustergasse einquartiert. Die Tochter des Hauses Schäfer, die 14jährige Rosel, bemerkte, dass es recht große Männer waren, die da Einlass begehrten, dass es Soldaten waren und dass ihre Uniformen keinerlei Abzeichen trugen. Das war auffällig und wurde beredet. Da das Haus mit insgesamt 11 Familienmitgliedern voll belegt war und der Vater zudem mit einer Lungenentzündung daniederlag, versuchte man, die ungebetenen Gäste eine Haustür weiterzuschicken. Doch mit ruhiger Bestimmtheit beschied man der Familie, dass man hier nächtigen werde und nirgendwo anders. Die beiden Männer belegten die Holzbank und den Lehnstuhl in der Stube und verbrachten so die Nacht.
Share by: